Die Tristesse des Betonklotz

von Charlotte W.

– Ein Erfahrungsbericht vom Besuch des NSU-Prozesses –

Die Betonfassade des Justizzentrums in der in der Nymphenburger Straße hebt sich kaum vom grauen, wolkenverhangenen Himmel ab. Es ist ein trüber Novembermorgen, an dem wir uns vor dem Gebäude versammeln, um gemeinsam den 162. Verhandlungstag des NSU-Prozess in München zu verfolgen. Aber zunächst heißt es warten. Viel ist nicht los an diesem Tag. Eine Schulklasse ist noch da, aber deren Interesse gilt offensichtlich nicht dem NSU-Prozess, da sie sich nicht vor dem separierten Sondereingang, sondern vor dem Haupteingang einreihen. Als Justizfachangestellte freundlich und routiniert dann die Pforten öffnen, fühle ich mich noch nicht wie bei Gericht, sondern wie am Flughafen: Gang durch den Metalldetektor, dann sämtliche Taschen entleeren, hinter Sichtschutz wird abgetastet. Wie im Theater kann ich schließlich meine Jacke und Tasche abgeben und erhalte im Gegenzug eine Gaderobennummer. Sogar „Viel Spaß!“ wünscht man mir. Ich bin gespannt.

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„Die Luft hier ist zum Schneiden“

Von der Forschungsgruppe Recht Raum NSU

– Eindrücke vom Besuch des NSU-Prozess im Oberlandesgericht München –

Geduldsprobe: Auf dem Platz vor dem Haupteingang steht ein provisorisches „Partyzelt“, dessen weiße Farbe sich von den dunklen Tönen der Außenfassade des OLG abhebt. Es dient als „Warteraum“ und Wetterschutz für wartende Besucher_innen des NSU-Prozess. Das Zelt ist längs durchtrennt von gelben Bauzäunen aus Plastik, die mich an Baustellen denken lassen.

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Alle sprechen vom Trio. Wer spricht von Rassismus?

Von der Forschungsgruppe Recht Raum NSU

– Eine Analyse der ersten 139. Verhandlungstage –

Die Macht, die der Diskurs besitzt, trennt das »Sagbare« vom »Nichtsagbaren«; das bedeutet, »dass bestimmte Perspektiven auch deshalb aus dem Diskurs herausgedrängt werden, weil institutionelle Regelungen und Verfahrensweisen diese Perspektiven festlegen« (Nanna Heidenreich 2013: S. 1001)

In der Beschäftigung mit dem sogenannten NSU-Prozess fällt sofort die schiere Menge an Themen, Akten und Artikeln auf. Wer unabhängig von der politischen Stoßrichtung einiger Zeitungen erfahren möchte, was eigentlich genau während der einzelnen Verhandlungstage passiert, stößt schnell auf eine kurios anmutende Leerstelle: es gibt keine offiziellen Protokolle vom Prozess. Kontinuierlich geführte und öffentlich zugängliche Protokolle gibt es nur von der Initiative NSU-Watch sowie von einzelnen Nebenklagevertreter_innen2 3, die sich dieser äußerst wichtigen Aufgabe annehmen. Ohne die Protokolle und Berichte wäre es für Leute, die nicht jeden Verhandlungstag vor Ort sind, unmöglich, die genauen Inhalte und Äußerungen einzelner Zeug_innen sowie die allgemeine Entwicklung des Prozesses nachzuvollziehen.

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A Londoner’s perspective on the NSU trial and the proceedings at the Munich Higher Regional Court

By Liz Fekete – Executive Director of the Institute of Race Relations (liz@irr.org.uk)

Deutsch

It’s a long time since I was at the Munich Higher Regional Court, and I worry about the reliability of my memory. But after both visits I wrote emails to my friend Peter Pelz, and I include extracts from this correspondence here. Peter, many of whose family died at Auschwitz, is a co-director of the Soul of Europe, a mediation project working in the Balkans. Dust, Thou Art – a (forthcoming) memoir of his journey through the Balkans, is a reflection on the relationship between societal cruelty and cultural norms. While Peter has a great interest in the NSU case, my reading of earlier drafts of his manuscript also informed the way I related to the NSU trial. I found myself reflecting not just on the court proceedings, but wider cultural norms in Germany.

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Eine Londoner Perspektive auf den NSU-Prozess und die Verhandlungen im Münchner Oberlandesgericht

Ein Gastbeitrag von Liz Fekete – Direktorin des Institute for Race Relations (liz@irr.org.uk)

 English

Es ist schon längere Zeit her, dass ich im Münchner Oberlandesgericht war und ich sorge mich daher etwas über die Verlässlichkeit meiner Erinnerung. Doch nach meinen beiden Besuchen schrieb ich Emails an meinen Freund Peter Pelz. Unter anderem verwende ich hier Ausschnitte aus unserer Korrespondenz. Peter, aus dessen Familie viele in Auschwitz ermordet wurden, ist Kodirektor des Mediationsprojekts “Soul of Europe”, welches in der Balkanregion aktiv ist. Dust, Thou Art – seine in Kürze erscheinenden Memoiren seiner Reise durch die Balkanregion, ist eine Reflexion über die Beziehung zwischen Unmenschlichkeit in der Gesellschaft und kulturellen Normen. Während Peter ein großes Interesse an dem NSU-Prozess hat, wurde meine Art und Weise, wie ich mich auf den NSU-Prozess beziehe durch die Lektüre der Entwürfe seines Manuskripts beeinflusst. Ich habe mich in Reflexionen wiedergefunden, nicht nur über die Gerichtsverhandlungen, sondern auch über die zugrundeliegenden kulturellen Normen in Deutschland.

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Worum geht’s? – Eine Einleitung

Hervorgehoben

Von der Forschungsgruppe Recht Raum NSU

Wir sind nicht das jüngste Gericht“
 (Bundesanwalt Herbert Diemer, In: NSU Watch: Protokoll des 95.Verhandlungstages, 19.3.2014)

Seit dem 4. November 2011 ist bekannt, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordete. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michéle Kiesewetter. Darüber hinaus wird das NSU-Netzwerk für zwei Bombenanschläge in Köln verantwortlich gemacht, bei denen mindestens 24 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Seit Mai 2013 läuft am Oberlandesgericht in München der Strafprozess gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze. Gerlach und Schultze haben bereits vor Gericht ausgesagt. Zschäpe, Wohlleben und Eminger schweigen beharrlich. Der Prozess beschränkt sich weitestgehend auf die strafrechtliche Aufarbeitung der Schuld der Angeklagten. Eine umfassende Aufklärung des NSU-Netzwerkes und seiner Taten ist mit Verweis auf die Anklageschrift nicht Aufgabe oder primärer Gegenstand des Prozesses. Insbesondere die Bundesanwaltschaft versucht das Verfahren zu entpolitisieren und eine Aufarbeitung des NSU-Komplexes zu verhindern. Für München wünscht man sich einen Fritz Bauer, der das große Schweigen durchbricht und anregt, endlich auch von staatlicher Seite aus mehr Licht ins immer größer werdende Dunkel des NSU-Netzwerkes zu bringen. Bauer war Generalstaatsanwalt und maßgeblich für die Initiierung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren verantwortlich. Auch wenn Bauer an seinem Anspruch scheiterte, eine umfassende und vollständige strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem NS-Justizunrecht zu leisten, besteht sein großer Verdienst darin, eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust eingeleitet zu haben. Bauer hatte erkannt, dass „der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte“1 gewesen war und eine juristische Aufarbeitung von Verbrechen ihre politische Dimension nicht ausblenden darf.2

Gegenwärtig macht der NSU-Prozess den Eindruck, dass auch nach Abschluss dieses Verfahrens und zahlreicher Untersuchungsausschüsse weiterhin viele Fragen unbeantwortet bleiben. Gerade deshalb darf der Prozess nicht als abschließender Teil der Aufklärung und Aufarbeitung des NSU-Netzwerkes verstanden werden.

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