Die Tristesse des Betonklotz

von Charlotte W.

– Ein Erfahrungsbericht vom Besuch des NSU-Prozesses –

Die Betonfassade des Justizzentrums in der in der Nymphenburger Straße hebt sich kaum vom grauen, wolkenverhangenen Himmel ab. Es ist ein trüber Novembermorgen, an dem wir uns vor dem Gebäude versammeln, um gemeinsam den 162. Verhandlungstag des NSU-Prozess in München zu verfolgen. Aber zunächst heißt es warten. Viel ist nicht los an diesem Tag. Eine Schulklasse ist noch da, aber deren Interesse gilt offensichtlich nicht dem NSU-Prozess, da sie sich nicht vor dem separierten Sondereingang, sondern vor dem Haupteingang einreihen. Als Justizfachangestellte freundlich und routiniert dann die Pforten öffnen, fühle ich mich noch nicht wie bei Gericht, sondern wie am Flughafen: Gang durch den Metalldetektor, dann sämtliche Taschen entleeren, hinter Sichtschutz wird abgetastet. Wie im Theater kann ich schließlich meine Jacke und Tasche abgeben und erhalte im Gegenzug eine Gaderobennummer. Sogar „Viel Spaß!“ wünscht man mir. Ich bin gespannt.

Über ein karges Treppenhaus geht es auf die Zuschauer_innentribüne und ich bekomme einen ersten Blick auf den Verhandlungssaal. Die immerhin gut eine Millionen Euro für den Umbau wurden sicherlich nicht in eine halbwegs angenehme Atmosphäre investiert. Die Plätze für die Zuschauer_innen füllen sich allmählich und die zwei Herren, die stark an stereotype Neo-Nazis erinnern, tragen ebenfalls nicht zu meinem Wohlbefinden bei. Auch die Plätze für die Presse werden allmählich belegt, wenn auch nicht vollständig, weshalb ich kurz vor Verhandlungsbeginn doch noch einen Platz weit weg von den vermutlichen Nazis und mit gutem Blick auf das Geschehen ergattern kann. Um 9:45 Uhr betreten dann alle Beteiligten den Gerichtssaal. Auch das Fernsehen ist anwesend, die wie jeden Tag eine Rückansicht der schweigenden Beate Zschäpe filmen, und dann den Saal verlassen müssen, bevor es richtig los geht. Es werden nur wenig einleitende Wort verloren. Auch die offensichtliche Gemütlichkeit auf der Anklagebank, wo sich die Anwält_innen der Angeklagten freundlich begrüßen und schon mal ihre Brotzeit auf den Tisch legen, zeigt, dass sich nach 161 Prozesstagen Gewohnheit und Routine eingestellt haben. Auf den Plätzen der Nebenkläger bleibt es aber leer an diesem Tag.

Der erste Zeuge. Ein Kriminalkommissar, der einem der Angeklagten Waffen vorgelegt hatte, um herauszufinden, welche die Tatwaffe war. Es werden etliche Lichtbilder von drei unterschiedlichen Waffen mit und ohne Schalldämpfer gezeigt. Letztlich hatte Carsten Schultze damals die Ceska als tatsächliche Tatwaffe identifiziert – aber war das Vorgehen der Kriminalpolizei zu suggestiv? Dieser Vermutung muss sich der Zeuge in vielen bohrenden Fragen der Anwälte von Schultze stellen. Auch Heer, Stahl und Sturm, die Anwält_innen von Beate Zschäpe, deren Namen immer wieder Irritation in mir auslösen, wenn ich sie höre, zweifeln die methodische Vorgehensweise bei der Vernehmung an. Aber der Zeuge bleibt souverän und sicher und wird zur Mittagspause aus dem Zeugenstand entlassen.

Angeklagte, die kichernd Gummibärchen naschen

Während der Pause kann ich die Tristesse des Betonklotz und das rege Treiben in seinem Inneren noch etwas auf mich wirken lassen. Die Kantine ist überfüllt, aber Appetit habe ich ohnehin nicht. Der ist mir vergangen, als ich zusehen musste, wie Sturm und Heer mit Frau Zschäpe während der Verhandlung kichernd Gummibärchen genascht haben. Wie muss es nur den Opfern und deren Angehörigen gehen, wenn sie das sehen? Nun ist mir auch klar, warum die Plätze der Nebenkläger_innen derartig leer sind.

Nach der Pause wird Antje B. als Zeugin vernommen. Ich erfahre, dass sie Erzieherin ist , als die Personalien abgefragt werden. Darüber werde ich später noch oft nachdenken müssen. Im Fokus der Befragung stehen ihre Aktivitäten bei der rechtsradikalen Bewegung Blood and Honour in den 1990er Jahren. Die Fragen des Richters scheinen sehr vorsichtig formuliert zu sein. Auch wenn Antje B. nur sehr spärlich erzählt, zeichnet sie das Bild einer Mutter von vier Kindern, die damals eigentlich nur eine familienfreundliche Gemeinschaft finden wollte und nette Konzerte veranstaltete. „Von Rock bis Metal“ sagt sie, als sie das Genre benennen soll. Richter Manfred Götzl bleibt bei seinen Nachfragen so entspannt, dass ich mich frage, ob ich die Einzige bin, die die Glaubwürdigkeit der Zeugin anzweifelt. Aber auch die Spiegel Online-Redakteurin in der Reihe vor mir scheint sich an den Ausführungen von Antje B. zu stören: „Folter wieder einführen, sogar Daumenschrauben anlegen“ fordert sie. Selbst mir erscheinen diese Forderungen zu drastisch, auch wenn ich mich fassungslos fühle. Lässt sich das Gericht wirklich so vorführen? Oder ist das eine Art Vernehmungsstrategie, von der ich nichts verstehe?

Lässt sich die Justiz vorführen?

Und wieder werden Bilder gezeigt. Bilder, wo ich mir sicher bin, dass Uwe Mundlos darauf zu sehen zu sein muss, auf einem der Blood and Honour Konzerte, damals. Auch wenn ich ihn nur von Pressebildern kenne. Aber Antje B. ist sich da gar nicht sicher und spricht über das junge Mädchen, das daneben steht. Diese Vernehmung zieht sich an diesem trüben Novembertag zäh dahin. Richter Götzl stellt viele Fragen. Wie wurde Blood and Honour damals finanziert? Worum ging es eigentlich? Auch Frau B. wird bei der Beantwortung dieser Fragen immer unsicherer. Sollte Blood & Honour doch mehr gewesen sein als eine Gruppe, die gemütlich als Familie zusammen kommen und ein bisschen Musik hören wollte? Das kann an diesem 162. Verhandlungstag nicht beantwortet werden. Stattdessen fordert die Verteidigung einen Zeug_innenbeistand. Zu sehr würde Antje B. sich mit ihren eigenen Aussagen selbst belasten. Der Richter Manfred Götzl ist eigentlich für seine Entschiedenheit und Verbissenheit bei Zeug_innenbefragungen bekannt. Davon spüre ich an diesem Tag wenig.

Ich habe den Eindruck, dass die Justiz sich vorführen ließ. Und schlimmer noch: Auch die Geschädigten sowie deren Angehörige müssen sich vorgeführt vorkommen. Weil es nur zäh vorangeht und es immer später wird, soll Antje B. an einem anderen Tag wiederkommen, um sich weitere Fragen stellen zu lassen. Auch ich verlasse das Betongebäude des Strafjustizzentrums mit vielen offenen Fragen.