„Die Luft hier ist zum Schneiden“

Von der Forschungsgruppe Recht Raum NSU

– Eindrücke vom Besuch des NSU-Prozess im Oberlandesgericht München –

Geduldsprobe: Auf dem Platz vor dem Haupteingang steht ein provisorisches „Partyzelt“, dessen weiße Farbe sich von den dunklen Tönen der Außenfassade des OLG abhebt. Es dient als „Warteraum“ und Wetterschutz für wartende Besucher_innen des NSU-Prozess. Das Zelt ist längs durchtrennt von gelben Bauzäunen aus Plastik, die mich an Baustellen denken lassen.

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Der linke und rechte Gang ist für akkreditierte Pressevertreter_innen mit Presseausweisen vorgesehen. Es gibt zwei Arten von Ausweisen: einen, der einen festen Platz auf der Tribüne garantiert und einen, der Pressevertreter_innen Einlass gewährt, sofern die Presseplätze nicht vollständig besetzt sind. Der mittlere Gang ist für die „Zuhörer“. Gendergerechte oder -sensible Sprache scheint sich am Oberlandesgericht noch nicht etabliert zu haben. Warum bin ich nicht überrascht?

Zwischen dem Zelt und dem eigentlichen Gebäude des OLG gibt es Aschenbecher und Mülleimer für Zigaretten und Kaffeebecher, die man nicht mit in das Gebäude hinein nehmen darf.

Entgegen gängigen Meinungen haben wir den Eindruck, dass es durchaus ein kontinuierliches Interesse an dem Prozess gibt. Als wir am 22. Juli 2014 das erste Mal gemeinsam vor Ort sind, ist das Interesse sehr groß. Beate Zschäpe hatte einen Befangenheitsantrag auf Wechsel ihrer Verteidigung gestellt und an dem Tag wird die Reaktion des Senats auf ihren Antrag erwartet. Insofern ist die Schlange der Wartenden lang und wir kommen auch erst eine viertel Stunde nach Prozessbeginn rein, da einige Plätze, die für die Presse reserviert waren, leer geblieben sind und nun auch für Zuhörende freigegeben werden.

Der Eingang zum Prozess ist gleichzeitig der reguläre Haupteingang des Gerichts. Die spezielle Warte- und Einlasszeremonie betrifft jedoch nur Besucher_innen des NSU-Prozess.
Vom Eingang aus führt ein mit ca. zwei Meter hohen Stellwänden gesäumter Gang nach links an der gläsernen Außenfassade entlang und mündet in einen ebenfalls durch Stellwände abgetrennten Bereich des Eingangsfoyers. Der Gang ist schmal, es fühlt sich eng an und abgesehen von der Glasfront am Eingang gibt es wenig Tageslicht – Neonröhren. Ich werde mit „Grüß Gott“ begrüßt – Wir sind in Bayern.

Sicherheitskontrollen wie am Flughafen

Am Ende des behelfsmäßig eingerichteten Ganges markieren provisorisch aufgestellte Tische eine Art Schalter, an dem ein Beamter steht, der einen Ordner mit Namen derjenigen Personen hält, die den Prozess bereits besucht haben. Hinter dem Tisch sitzen zwei Polizist_innen, denen ich meinen Ausweis geben muss. Sie kopieren meinen Ausweis. Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel oder Sans-papiers würden sich durch eine solche Kontrolle selbst gefährden. Dadurch ist ihnen der Zugang zum Prozess also offensichtlich verwehrt, was nahelegt, dass der Prozess keineswegs für alle offen ist.

Anschließend muss ich meine Tasche, Jacke, Schal, Gürtel und mein Handy in eine Plastikkiste legen. Diese wird durch einen Sicherheitsscanner gefahren und mich befällt ein Gefühl wie am Flughafen: „Bloß nichts falsch machen, sonst kriege ich Probleme“.
Ich selber muss durch einen Metalldetektor gehen, den alle erst nach expliziter Aufforderung passieren dürfen. Hinter der „Schranke“ aus Metalldetektor und Sicherheitsscanner stehen auf der rechten Seite eine Reihe Tische, hinter der eine Art Garderobe für die Plastikkisten eingerichtet wurde. Auf der linken Seite führt das Treppenhaus hoch zum Gerichtssaal. Dahinter, genau gegenüber der provisorischen Garderobe sind zwei Kabinen mit Stellwänden abgetrennt, in denen alle Besuchenden abgetastet werden. Es gibt eine Beamtin, die Frauen kontrolliert und einen Beamten, der Männer kontrolliert. Dabei wird klar so vorgegangen, dass alle Personen nach Einschätzung der Polizist_innen einem dieser beiden Geschlechter zugeordnet werden. Was passiert, wenn ich mich anders verorte?

Ich werde von einer Beamtin kontrolliert, die ankündigt, wo sie mich gleich abtasten wird. Sie geht dabei vorsichtig vor, drückt ihre Hand nicht auf meinen Körper und spart meinen Intimbereich sowie meine Brüste aus. Ich denke, das ist die Art und Weise, wie eine Abtastkontrolle nach Vorschriften ausgeübt werden soll. Andere berichten jedoch davon, dass sie unangekündigt am Hintern und an der Brust auf unangenehme Weise fest angefasst wurden. Für Menschen, die solch eine Behandlung und solche Berührungen nicht aushalten wollen oder können, endet der Besuch der Verhandlung unter Umständen schon hier. Ausnahmslos alle, die den Prozess von der Tribüne aus verfolgen, ob Pressevertreter_innen oder Zuhörende, werden jeden Tag kontrolliert, untersucht und abgetastet. Auch die Anwält_innen der Nebenklage und der Verteidigung müssen sich jeden Tag diesen Kontrollen unterwerfen. – Hier wird nichts dem Zufall überlassen.

Nach der Personenkontrolle kann ich ausgewählte Dinge aus meiner Tasche holen, um sie mit in den Saal zu nehmen. Gegenstände wie Bücher, Zeitungen, Schreibblöcke, Schreibutensilien oder Kleingeld für die Pause dürfen mit hinein genommen werden. Das Handy muss ausgeschaltet in der Kiste an der Garderobe bleiben. Dies soll sicherstellen, dass keine unautorisierten Video- oder Tonaufnahmen aus dem Gerichtssaal nach außen gelangen. Bei der Durchsicht meiner Tasche wurde ich bisher jedes Mal gefragt, ob ich rauche, obwohl dies angesichts des Tabaks in meiner Tasche recht offensichtlich ist. Bei einer Durchsicht erklärt mir einer der Beamten, dass Rauchen schlecht für mich sei. Als ob ich nicht wie jeder andere Mensch für mich selbst entscheiden dürfte, ob ich mir diese gesellschaftliche Sucht aufbürde oder nicht. – My body, my choice!

Essen darf ich nur mitnehmen, weil ich den Beamt_innen medizinisch begründen kann, dass ich welches für den Notfall dabei haben muss. Meine medizinischen Utensilien darf ich ebenfalls mit in den Gerichtssaal nehmen.

Als eine der Polizist_innen meine Notizhefte durchblättert, wendet sie sich an einen Kollegen: „Da steht auch Rassismus drin. Das bleibt hier.“ Erst als ein Journalist hinter mir mitbekommt, dass ich meine Notizen nicht mit auf die Zuschauer_innentribüne nehmen darf, weil ich das Wort Rassismus notiert hatte, lenkt einer der Polizisten ein und gibt mir meine Unterlagen zurück.

Über eine relativ steile Treppe führt in fünf Absätzen ein Weg nach oben. Nach den ersten zwei Absätzen gibt es keine Fenster mehr. Wo es einen Aufzug für Menschen mit Gehbehinderung gibt, ist nicht erkennbar, es sind jedoch Personen mit Rollator oben auf der Tribüne im Gerichtssaal. Dass ein barrierefreier Zugang zu einer offiziellen Zuschauer_innentribüne in einer Verhandlung mit besonderem öffentlichen Interesse nur eingeschränkt sichtbar ist und alle die ihn nutzen möchten, erst fragen müssen, ist auch am OLG München normalisierter Alltag.

Abgeschlossenheit als Prinzip

Obwohl ich sonst einen sehr guten Orientierungssinn habe, gelingt es mir auf der Zuschauer_innentribüne nicht, mich nach Himmelsrichtungen zu verorten. Im Gerichtssaal gibt es weder Fenster, durch die man nach draußen schauen könnte, noch eine erwähnenswerte natürliche Lichtquelle. Nur oberhalb der Tribüne verläuft ein schmaler Fensterglasstreifen, durch den man aber nicht hinausschauen kann. Die Wände sind eierschalenfarben gestrichen und haben einen leichten Gelbstich. Es gibt viel indirekte Beleuchtung über das Anstrahlen der Wände und Schallelemente, die von der Decke aus hinab ragen und wohl zur Verbesserung der Akustik beitragen sollen. Die Unmöglichkeit sich zu orientieren und die dadurch hervorgerufene Unsicherheit ist typisch für Gerichtsarchitektur und gewollt – durch die Abtrennung von Außenbezügen entsteht ein Gefühl der Abgeschiedenheit von Außen. Die Abgeschlossenheit garantiert eine Einheit von Raum, Zeit und Handlung, in der nach den eigenen Regeln des Gerichts Taten versprachlicht und in eine Ordnung zurückgeführt werden sollen.

Wer sitzt wo? Sichtbarkeit und Anordnung der Prozessbeteiligten

Die Tribüne umfasst vier Reihen, die in der Mitte zweigeteilt sind sowie eine an der Rückwand verlaufenden Sitzbank mit insgesamt 100 Sitzplätzen. Aus Sicht der Öffentlichkeit, die von der Tribüne hinab in den Gerichtssaal blickt, sind auf der linken Seite die Zuhörer_innenplätze, die rechte Seite ist der Presse vorbehalten. Wenn die Plätze der Presse bis 15 Minuten nach Prozessbeginn nicht durch Pressevertreter_innen in Anspruch genommen werden, dürfen dort auch andere Zuhörende sitzen. Allerdings berichten viele, die jede Woche im Prozess sind, dass nur sehr selten alle Presseplätze besetzt sind.

Die Tür, die zur Tribüne führt, befindet sich in der obersten, letzten Reihe. Von dort aus kann ich auch ohne Treppen zu überwinden in den Pausenraum gelangen. Gleichzeitig befindet sich diese hinterste Reihe genau auf der Höhe der Decke des Gerichtssaals. Somit ist aus der letzten Reihe nur noch der Senat mit den Richter_innen zu sehen. Um einen Blick auf die Plätze der Angeklagten mit ihrer Verteidigung, die Bundesanwaltschaft oder die Zeug_innen zu bekommen, muss ich mich unangenehm weit nach vorne beugen und verdrehen oder in einer der ersten beiden Reihen sitzen. Von allen Sitzplätzen der Tribüne aus sind die Nebenklagevertreter_innen bis auf wenige, die in einer zusätzlichen seitlichen Reihe sitzen, nicht zu sehen, da sie sich genau unter der Tribüne befinden. Der überwiegende Teil der Nebenklagevertreter_innen wird, wenn sie sprechen, auf Leinwände links und rechts vom Senat an die Wände projiziert. Dadurch entsteht oftmals der Eindruck von Stimmen aus dem „Off“. Sichtbar werden einige Personen in dem Prozess für das Publikum also nur, wenn sie aktiv werden. Dieser Fokus des Blickwinkels der Tribüne stimmt nachdenklich: Hängt die direkte Sichtbarkeit verschiedener Personengruppen im Prozess mit der ihnen zugewiesenen Rolle zusammen? Wer hat scheinbar eine große, wer eine geringe Bedeutung im Prozess? Welche Hierarchien werden dadurch erzeugt? Es ist offensichtlich eine asymmetrische Anordnung von Personen im Gerichtssaal. Manche können alle Anwesenden im Saal sehen, wie der Senat oder die Bundesanwaltschaft. Pressevertreter_innen und Zuschauer_innen auf der Tribüne hingegen sehen mitunter nur den Senat und die Nebenklagevertretung sieht die Menschen auf der Tribüne nicht. Auffallend ist auch die Platzierung der Zeug_innen im Prozess. Sie sitzen relativ mittig im Gerichtssaal, von wo aus sie für alle Prozessbeteiligten gut sichtbar sind. Sie sitzen jedoch mit dem Gesicht in Richtung des Senats, weshalb alle anderen die Zeug_innen nur von hinten sehen können. Gerade bei Vernehmungen durch die Nebenklage stellt dies einen offensichtlich Nachteil dar, weil direkte Reaktionen, wie Gesichtsausdruck, Gestik oder Körpersprache der Zeug_innen nicht zu sehen sind.

Wer wird hier eigentlich vor wem geschützt?

Die Tribüne ist durch ca. 1,6 Meter hohes Plexiglas, das gleichzeitig als eine Art Geländer dient, vom unteren Teil des Gerichtssaals abgetrennt. Aus Sicherheitsgründen trennt diese Wand die Anwesenden im Saal. Aus Erzählungen oder Filmen war mir eher bekannt, dass Angeklagte hinter Glas sitzen, nicht aber die Zuhörer_innen oder die Presse. Wer wird hier vor wem geschützt? Nicht die Angeklagten werden als potentiell gefährlich angesehen, vielmehr soll jedem potentiell störenden Einfluss von „Außen“, also Personen, die keine feste Rolle innerhalb des Prozessablaufs haben, vorgebeugt und diese verhindert werden.

Für die Pausen im Prozess gibt es einen eigenen Pausenraum. Das ist notwendig, denn das Gebäude darf nur verlassen werden, wenn alle in der „Garderobe“ verstauten Dinge mitgenommen und die Sicherheitskontrollen bei Wiedereintritt nochmals komplett durchlaufen werden. Zudem verliert man den Platz auf der Tribüne, wenn man das Gebäude verlässt. Der Zutritt zu diesem Pausenraum ist jedoch nur in den Pausen gestattet. Ansonsten gibt es nur den Hauptein- und -ausgang.

Alltag im Gerichtssaal

Der Pausenraum befindet sich auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite der Tribüne. Es ist kein richtiger Raum, sondern lediglich ein ebenfalls mit Stellwänden abgetrennter Bereich eines größeren Treppenhauses. Auch hier gibt es keine durchsichtigen Fenster, die einer_m den Blick nach draußen ermöglichen würden. Die Fenster sind aus milchigem und rauem Glas, das den Eindruck verstärkt, man sei eingeschlossen. In der Ecke sitzt ein Justiz-/Strafvollzugsbeamter, der das Geschehen im Pausenraum überwacht. Einer von ihnen las die BILD-Zeitung. Die Ordnung oder Sicherheit im Pausenraum scheint also nicht allzu viel Konzentration abzuverlangen. Viele der Justizwachtmeister_innen vertreiben sich ihre offensichtliche Langeweile, indem sie auf dem Handy spielen, Musik hören oder dösen. Die zuweilen verständliche Ablenkung während ihrer Arbeit steht in ihrer Banalität im krassen Gegensatz zu dem, was im Prozess verhandelt wird.

Anders als die Zuschauenden und die Pressevertreter_innen können einige der Angeklagten, wie zum Beispiel André Eminger, der nicht in Untersuchungshaft sitzt, das Gerichtsgebäude in den Pausen verlassen. So entstehen verstörende Szenen, die den Neonazi bei einer Zigarette mit seinen Anwälten oder Kamerad_innen, die ebenfalls den Prozess besuchen, vor dem Haupteingang des OLGs zeigen.

An der Wand im Pausenraum hängen die Prozesstermine, verschiedene Anordnungen, wie z.B. die Entscheidung zur Vergabe der Presseplätze, sowie die Namen der Angeklagten. Daneben stehen zwei Wasserspender mit Plastikbechern, die einzigen, die auch in den Saal mit hinein genommen werden dürfen. Daran anschließend gibt es auf einer Tischreihe eine Art Selbstbedienungssnackbar mit Schokoriegeln, belegten Brötchen und Fertigsalaten. Bezahlt wird in eine kleine Schale neben dem Essen und erinnert an das Konzept von Küfa („Küche für alle“). Etwas weiter hinten im Raum in Richtung der Toiletten gibt es zudem einen Kaffeeautomaten, der einem für 50 Cent Koffein in viel zu heißer Form ausgibt.

Bei der klimatisierten und teils sehr stickigen Luft im Gerichtssaal ist das manchmal mehr als nötig. – Wach bleiben! Aufmerksam bleiben!